Es gibt ein paar Dinge, die mich mit meinen Eltern und Großeltern verbinden - mal abgesehen von einem gewissen DNA-Gemisch: von meiner Mutter habe ich das Schneidern und Stricken gelernt; mein Großvater hat ebenso wie ich Handball gespielt, er im Tor, ich als Kreisläufer - leider niemals gegeneinander; von meiner Großmutter habe ich noch das Spinnrad, das sie als Zehnjährige bekommen hat, habe sie aber nie daran arbeiten sehen. Es war und ist immer noch mit einem wirklich wunderschön gebundenen Rocken eher ein Schmuckstück zum Ansehen als ein Arbeitsgerät, doch es läuft immer noch.
Als ich in der 7. Klasse war, wurde während einer Projektwoche das Projekt "Wolle - Vom Schaf zum Faden" (ob es genau so hieß weiß ich nicht mehr) angeboten. Wir haben einem Schafscherer bei der Schur zugesehen, die Wolle dann mitgenommen, gewaschen (es hat im Physikflur unserer Schule bestialisch nach Schaf gestunken) und damit das Spinnen gelernt. Jeder Teilnehmer durfte am Ende der Woche einen Sack mit unversponnener Wolle mitnehmen, um weiter üben zu können. Meine Mutter hat diesen Sack etwa ein halbes Jahr später "entsorgt", weil die Wolle noch immer nach seinem Erzeuger gerochen hat.
Tja, dann war erst einmal Pause. Anderes war wichtig: Handball, Tanzen, Jonglieren, Freunde. Durch das Jonglieren bin ich zum Mittelalter gekommen. Ich und Mittelalter - zwei Welten treffen aufeinander. In der Schule habe ich Geschichte gehaßt - selbst in der 13. Klasse. Ich kann mich an zwei Zitate meiner Geschichtslehrer erinnern: "Mädchen können kein Geschichte!" Diese Aussage wurde begleitet von der Note "ausreichend" auf dem Abgangszeugnis von der Realschule. Kein Mädchen dieser Klasse war besser als "ausreichend".
"Wenn Sie Geschichte studieren wollen, müssen Sie das wissen." Ein überflssiger Satz an eine Gruppe Abiturienten, die dienstags in der neunten und zehnten Stunde (15:00 - 16:30) das Pflichtfach "Geschichte und Sozialwissenschaften" hatten. Damals dachte ich, daß ich nie etwas mit Geschichte zu tun haben werde. Heute tut mir der Lehrer leid, denn er war damit gestraft einer uninteressierten Horde von jungen Leuten sein absolutes Lieblingsfach näher bringen zu müssen, ohne zu wissen, wie er sie dafür begeistern konnte.
Diese mittelalterlichen Märkte haben mich gefangen, haben mich Kleidung machen lassen, ohne richtig zu wissen, was ich tat, haben mich staunen lassen, haben mir aber auch den Ehrgeiz gegeben, mich mehr mit Geschichte zu beschäftigen: was hat man damals getragen, was haben die Frauen gemacht, welche Berufe haben sie vielleicht ausgeübt, gab es Zünfte? Und je mehr man weiß, desto mehr liest man über Kleinigkeiten, sucht nach Gründen, sucht nach Informationen, nach Beispielen, nach archäologischen Funden. Das ging soweit, daß ich schließlich Kleidung nach rekonstruierten Schnitten von Textilfunden von Hand mit selbstgesponnenem Garn genäht habe: Wolle für Wollstoffe, Leinen für Leinenstoff, Seidengarn für Seide. Ich konnte fast alles - nur nicht weben.
Etwa um das Jahr 2000 habe ich zum ersten Mal an einem Flachwebstuhl gesessen. Es war ein Workshop über 4 Tage in Norddeutschland. Vorab wurde mit der Kursleiterin abgesprochen, was ich machen wollte: viel Stoff herstellen, möglichst Leinen in Naturfarbe. Ich kam also an einen fertigbespannten Webstuhl mit Schnellschußlade. Es war zwar kein Monster wie andere Webstühle in dem Haus, aber schon ziemlich imposant. Die Kette war weiße Baumwolle, der Schuß gelblich gefärbtes Leinen (eigentlich wollte ich ja den rohen Faden, der mit der Zeit immer weißer wird), das Muster erinnerte mich eher an Tischwäsche, aber es war genau richtig fr meine ersten Versuche an einem Webstuhl: 2/1-Köper, mal als Schuß-, mal als Kettköper. Schußmusterfolge beliebig. Ich war fasziniert von der Geschwindigkeit, mit der man arbeiten konnte, von den Gestaltungsmöglichkeiten des Musters, von dem letzten noch fehlenden Glied meiner Kette zur Herstellung von Kleidung. Das sollte dazu führen, daß zwei Fadenliebhaber sich im Jahr 2004 einen alten Webstuhl kaufen.
Als das Gerät im Haus meiner Mutter aufgebaut und das erste Mal in Betrieb genommen wurde, erzählte sie mir, daß meine Großmutter nicht nur gesponnen, sondern auch gewebt habe. Was würde sie wohl sagen, wenn sie mich jetzt sehen könnte? Vielleicht: "Ich habe es immer gewußt: sie hat ein Händchen für ganz altes Handwerk."